Morgens, 8 Uhr. Der Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude des Kunden ist spärlich belegt. Der Besucherplatz ist wenige Schritte vom Eingang entfernt, so dass ich bepackt mit Papierrolle und Materialkoffer nur einen kurzen Weg zurücklegen muss. Der Projektleiter erwartet mich schon und führt mich in den Showroom. Der Raum ist auf mein Bitten hin bereits von Stühlen und Tischen befreit. Es gibt nur ein Flipchart, einige Stehtische und im hinteren Teil des Raumes ist ein Büffet mit Obst und Getränken aufgebaut. Daneben: eine riesenhafte Landmaschine, "als Anschauungsmaterial". Vor der langen Wand auf der vorderen Seite hängt noch eine Leinwand, flankiert von zwei Pflanztöpfen. Die sind schnell zur Seite geräumt, die Leinwand wird hochgezogen. Dahinter kommt das zum Vorschein, was eine der wichtigsten Zutaten eines erkenntnisreichen EventStorming-Workshops ist: eine 9 Meter breite, weiße Wand, Platz für mehrere Bahnen der Papierrolle und viele, viele Postit Notes. Die "Munition" hole ich aus dem Materialkoffer und verteile sie auf den Stehtischen. Zunächst nur schwarze Stifte und orangene Postits. Heute erwarte ich 15 Teilnehmer:innen. Das ist eine gute, keinesfalls zu große Zahl von Mitwirkenden. Im Vorfeld haben wir uns sehr darum bemüht, die richtigen Menschen einzuladen, nicht vorzuladen. Heute werden Mitarbeiter:innen aus dem Produkt- und Projektmanagement ebenso dabei sein, wie Kolleg:innen aus der Produktion, dem Vertrieb, dem Versand und dem Service. Auch zwei verantwortliche Abteilungsleiter werden an dem Workshop teilnehmen. Jede:r einzelne von ihnen bringt Wissen mit, das in seiner Tiefe im jeweiligen Aufgabenbereich einen ganz besonderen Wert hat. Gleichzeitig eint alle Beteiligten der Wunsch, mehr über den Prozess zu verstehen und konstruktiv an seiner Weiterentwicklung mitzuwirken. Am Ende des eintägigen Workshops wollen wir auf das "Big Picture" des Prozesses von der Bestellung bis zur Auslieferung und Wartung einer Landmaschine schauen. Wir wollen gemeinsames Verständnis herstellen, Begrifflichkeiten klären, eine gemeinsame Sprache sprechen und verstehen, wo die größten Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung dieses alltäglichen und gleichzeitig durchaus komplexen Kundenprozesses verborgen sind.
EventStorming Workshops
Die Idee des EventStormings stammt von Alberto Brandolini. Dabei handelt es sich nicht um ein festes Workshop-Format. Vielmehr kann auf verschiedenen Flughöhen auf die Zusammenhänge und Erfordernisse von Software-getriebenen Lösungen geschaut werden. Die Konzepte fußen auf dem Domain Driven Design (DDD). Brandolini hat drei Formate ausspezifiziert, die besonders häufig zur Anwendung kommen:
Big Picture: Geeignet, um komplexe Zusammenhänge sichtbar zu machen. Es wird ein gemeinsames Verständnis der Geschäftsprozesse erarbeitet.
Process-Modellierung: Einzelne Prozessteile werden identifiziert und mit ihren Auslösern, Regeln und Konsequenzen modelliert.
Software-Design-Modellierung: Durch die Aggregation verschiedener Aspekte des Prozessmodells zu Geschäftsobjekten wird der Entwurf einer Softwarearchitektur visualisiert.
Ziele eines Big Picture Workshops
Die Aufgabenstellung des obigen Kunden lautete: "Was ist der nächste beste Schritt für unsere Digitalisierungskampagne?" Das ist nur eine von vielen Einsatzmöglichkeiten des Big Picture Workshops. Weitere Fragen könnten sein:
Wie soll das initiale Produkt unseres Startups aussehen?
Wie funktionieren die Prozesse in unserem Unternehmen und wie lassen sie sich verbessern?
Welche Wertströme gibt es in unserem Geschäftsmodell und wo ist Optimierungspotential?
Wie stellt sich die Aufgabe aus Sicht der Anwender:innen dar und wie kann der Arbeitsfluss bestmöglich unterstützt werden?
Bei jeder dieser Fragestellungen gibt es im Querschnitt der Unternehmung sehr viele unterschiedliche Standpunkte, Meinungen und Überzeugungen. Dabei spielen nicht selten das Unwissen und Desinteresse der einen Abteilung bezüglich der Vorgänge der anderen Abteilung (aka Silos) sowie die Motive der handelnden Personen (aka Politik) und nicht zuletzt der profane Blick auf den eigenen Vorteil (aka Egoismus) eine größere gestalterische Rolle als des Austausch von Informationen, Erklärungen und Verbesserungsvorschlägen.
Hinzu kommt, dass die Expertise des Prozesses nicht bei einzelnen Personen liegt. Die Arbeitsabläufe durchlaufen alle Abteilungen. Niemand kennt die "ganze Wahrheit" des Prozesses in allen Details. Oft ist nicht einmal der Blick einer Abteilung auf den Prozess vollkommen konsistent. Wir haben es mit einem "Archipel" aus Inselwissen zu tun. Einiges davon überschneidet sich, anderes widerspricht sich vielleicht sogar. Durch Kolleg:innen, die das Unternehmen verlassen haben, können Lücken entstanden sein.
Beim Big Picture Workshop werden die Grenzen zwischen den Abteilungen geöffnet. Das Domänenwissen aller Expert:innen wird geteilt. So können Lücken geschlossen und Inkonsistenzen geklärt werden. Dabei werden auch Probleme, vielleicht sogar Konflikte offengelegt, die den Arbeitsfluss bzw. den Wertstrom unter Umständen schon seit langer Zeit behindern. Alle relevanten Stakeholder begegnen sich auf Augenhöhe, ausgestattet mit denselben Werkzeugen: einem Stift und jeder Menge Postits.
Dieser Workshop eignet sich überall dort, wo im Unternehmen unterschiedliche Zielsetzungen und Prioritäten aufeinander treffen und die konkrete Aufgabenstellung noch nicht klar formulierbar ist. Der grobe Überblick in einem gemeinsamen Modell erleichtert es den beteiligten Personen, Konsens über besonders kritische Aspekte der Wertschöpfungskette zu erzielen und sich so auf ein gemeinsames Ziel für eine Digitalisierungsinitiative zu verständigen.
Struktur des Workshops
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde und einer Einführung in das Thema beginnt die gemeinsame Arbeit. Vorwissen über den Ablauf des Workshops ist bei den Teilnehmer:innen nicht erforderlich. Die Arbeitsanweisungen werden Schritt für Schritt erklärt und erweitert.
Erzählerisches Durchlaufen
Inzwischen hat sich ein greifbares Modell der Abläufe herauskristallisiert. Wahrscheinlich bleibt es noch an verschiedenen Stellen vage, unklar und unvollständig.
Nun werden die Teilnehmenden die Geschichte des Modells erzählerisch durchlaufen, und zwar wortwörtlich. Jeweils wechselnde Erzähler:innen werden entlang der Events aussprechen, was im Einzelnen geschieht. Dabei werden naturgemäß Ungenauigkeiten und Lücken aufgedeckt, sei es durch die Erzählenden selbst oder durch Zwischenfragen der anderen Teilnehmer:innen. Lücken können im Verlauf der Erzählung durch weitere Events gefüllt werden. Dabei kann es zu intensiven fachlichen Diskussionen kommen, die nicht sofort lösbar sind. Wieder werden die Moderator:innen diese Punkte durch Hotspots markieren und so für die spätere Bearbeitung festhalten, um den Erzählfluss nicht mehr als nötig zu stören.
Rückwärts erzählen
Nach dem erzählerischen Durchlaufen mag das Modell den Teilnehmer:innen nachvollziehbar und konsistent erscheinen. In der Regel wird jedoch noch immer nicht die volle Komplexität des Prozesses widergespiegelt. Darum wird das Gesamtbild nun mit einer vollkommen neuen Art zu Denken in Frage gestellt, durch den rückwärtigen Erzählfluss. Die Idee besteht darin, ein Ereignis am Ende eines Arbeitsablaufes auszuwählen, z.B. ein Schlüsselereignis oder ein Ereignis ganz am Ende des Prozesses. Von dort aus werden nun diejenigen Ereignisse identifiziert, die als unmittelbare Voraussetzung für das in Frage stehende Ereignis notwendig sind. Sind alle Voraussetzungen modelliert? Stimmt ihre Abfolge?
Der erzählerische Teil des Workshops ist sehr zeitintensiv und herausfordernd. Er bedeutet für die Teilnehmenden nicht selten das Heraustreten aus ihrer Komfortzone. Und gleichzeitig führt diese Aufgabe zu einer großen Zahl weiterer Events, Personen und Systemen, die im ersten Teil übersehen wurden. Die Zahl der Postits kann sich in dieser Phase durchaus vervielfachen. Darum ist gerade diese Phase ganz außerordentlich wertvoll für das Ergebnis des Workshops.
Kosten und Nutzen
Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, den Anwesenden an dieser Stelle die Aufgabe zu stellen, dem Modell kleine rote und grüne Postits für Kosten und Nutzen hinzuzufügen. Dabei muss es sich nicht unbedingt um monetäre Aspekte handeln. Auch Mehrwerte in Form von Reputation, Werteübereinstimmung oder Mitarbeiter:innenzufriedenheit sind valide Nutzen-Aspekte. Kosten können dementsprechend alle hemmenden Wirkungen sein, die mit einem bestimmten Prozessteil verbunden sind.
Zusammenfassung
Am Ende eines langen Workshop-Tages stehe ich mit den 15 Teilnehmer:innen zusammen vor einer mit knapp 400 Postits gut gefüllten Wand. Alle blicken ein wenig erschöpft aber durchaus stolz auf die sehr sichtbar gewordene, gemeinsame Arbeit. Nachdem sich in der ersten Phase zwei Teilnehmer:innen in eine Beobachterrolle zurückgezogen haben, hat im weiteren Verlauf des Workshops ein intensiver Austausch aller Beteiligten stattgefunden - ein Nutzen, der bereits für sich genommen von unschätzbarem Wert ist. Erfreulich ist, dass alle Diskussionen ohne die Eskalation persönlicher Konflikte ablaufen konnten, was nicht zuletzt unserem frühen Eingreifen als Moderator:innen zuzurechnen ist. Durch eine ganze Reihe roter Hotspots haben wir Meinungsverschiedenheiten sichtbar gemacht und gleichzeitig den Druck herausgenommen, dass diese sofort vollständig aufgeklärt werden müssen. Unsere persönliche Mini-Trophäe ist die Erkenntnis, dass der in einer Abteilung ausgedruckte Laufzettel von der anderen Abteilung, für die er eigentlich gedacht war, seit geraumer Zeit direkt dem Papiermüll zugeführt wird, weil dort inzwischen eine Prozessverbesserung eingeführt wurde, die den Laufzettel überflüssig macht. Gut, dass wir drüber gesprochen haben... Die Abstimmung mit den Pfeilen hat drei besonders auffällige Kernprobleme sichtbar gemacht. Zwei von den dreien standen bereits vor dem Workshop als Hypothese im Raum. Die gemeinsame Arbeit hat einen weiteren Aspekt zu Tage gefördert, der als Voraussetzung für die effiziente Umsetzung der beiden anderen Bereiche nun vorher angegangen werden soll.
Ausgehend von einem Big Picture kann man die gefundenen Kernprobleme beispielsweise mit weiteren Workshop-Formaten des EventStormings, wie der Prozess-Modellierung oder der Software-Design-Modellierung, weiter erkunden und dabei bereits Lösungsansätze herausarbeiten. Alternativ kann sich ein User Story Mapping anschließen, um die Anforderungen eines Kernproblems zu benennen und zu strukturieren.
Das entstandene Modell muss als Momentaufnahme verstanden werden. Nur wenige Wochen später kann mit einem leicht geänderten Teilnehmer:innenkreis ein abweichendes Modell entstehen, das den Wert des letzten Modells in keinster Weise aufhebt. Es ergänzt die Erkenntnisse und stellt den Fokus neu ein, so dass weiteres Lernen möglich wird.