Wenn es um Gesundheit geht, ist das menschliche Sicherheitsbedürfnis verständlicherweise sehr hoch. Software muss in diesem Kontext den Erwartungen an Datenschutz und Vertrauenswürdigkeit einwandfrei gerecht werden. Die Entwicklung von zulassungspflichtigen Medizinprodukten ist daher streng geregelt und dokumentationspflichtig. Denn sowohl bei Laien in der Heimanwendung als auch bei medizinisch geschultem Personal können kleinste Flüchtigkeitsfehler schnell gesundheitliche Risiken bedeuten. Beim User Experience Design muss somit ein besonderer Fokus gesetzt werden, damit Nutzungsfehler so weit wie möglich ausgeschlossen werden.
Gute Usability = gute User Experience?
Zentrale Anforderung der europäischen Norm IEC 62366 „Anwendung der Gebrauchstauglichkeit auf Medizinprodukte“ ist die Durchführung und Dokumentation eines Usability Engineerings. Ziel ist es, die Sicherheit für Nutzer:innen bzw. Patient:innen zu gewährleisten. Um zu verstehen, wie die Anforderungen der IEC 62366-1 erfüllt werden können und wie man als Hersteller ein nutzerfreundliches Produkt nach aktuellen Standards auf den Markt bringt, ist es wichtig den Unterschied zwischen Usability und User Experience zu kennen:
Usability bezeichnet die „Gebrauchstauglichkeit“ während der unmittelbaren Nutzung eines Produktes. Gemessen wird die Usability daran, wie effizient, effektiv und wie zufriedenstellend jemand sein Ziel bei der Interaktion mit der Software erreicht. Sie ist ein Teil der User Experience.
User Experience bedeutet „Nutzungserlebnis“ und beschreibt das Erleben, also die Wahrnehmung eines Produktes sowohl vor, während und auch nach der unmittelbaren Nutzung. Die Usability entscheidet natürlich stark über Freude oder Frust bei der Anwendung. Wahrgenommen werden aber zusätzlich audiovisuelle Eindrücke, bei physischen Bedienelementen deren Haptik. Farben, Formen, Typografie, Animationen, Bildsprache, die Tonalität der verbalen Ansprache, der Klang von Warntönen zu den einzelnen Faktoren, die dazu beitragen wie vertrauenswürdig, seriös, sympathisch oder intuitiv bedienbar das Produkt erlebt wird.
Usability ist also eingebettet in die User Experience. Die Norm für Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten fordert aber „nur“ das Usability Engineering. Eine medizinische Anwendung, bei deren Nutzung kein Mensch zu Schaden kommt, kann folglich trotzdem eine User Experience haben, die beispielsweise als „altbacken“ oder wenig nutzerfreundlich wahrgenommen wird.
Menschzentrierte Produktentwicklung
Ob Design Thinking oder DIN EN ISO 9241-210: Der menschzentrierte Designprozess (oder HCD für engl. Human Centered Design) ist der Standard, nach dem sich professionelle UX Designer richten. Durch die Involvierung von Nutzer:innen von Anfang an wird sichergestellt, dass ein Produkt den gewünschten Mehrwert liefert und nicht „am Nutzer vorbei“ entwickelt wird. Learnings aus Research, Analysen und Evaluationen fließen kontinuierlich in die (Weiter-)Entwicklung ein – in Iterationen nähert man sich dem gewünschten Ziel.
Für alle Projektbeteiligten gilt es zunächst ein grundlegendes, gemeinsames Verständnis aufzubauen. Die zu lösenden Probleme werden ganzheitlich betrachtet und hinterfragt. In welchem Kontext bewegen wir uns? Welchen Mehrwert soll das Produkt bieten? Relevante Informationen zu technischen und wirtschaftlichen Rahmenbedinungen werden gesammelt. Durch klassische Research-Methoden wie Jobshadowings, Interviews und Workshops entsteht zwischen allen Beteiligten ein klares Bild vom Anwendungskontext. Ziele, Aufgaben und Bedürfnisse von Nutzer:innen werden identifiziert. Der stressige Klinikalltag von Healthcare Professionals stellt ganz andere Anforderungen als ein Blutzuckermessgerät für den Hausgebrauch. Im nächsten Schritt wird das gesammelte Wissen strukturiert. Nutzungsanforderungen können abgeleitet werden. Mit dieser klar formulierten Problemstellung beginnt die Erarbeitung von möglichen Lösungsvarianten. Die ersten Ideen und Konzepte werden durch grobe Wireframes (skizzenartige Entwürfe) und leichtgewichtige, interaktive Prototypen realisiert. So kann sehr früh und mit wenig Aufwand festgestellt werden, welche Lösungswege zielführend sind. Sobald es sinnvoll ist, wird ein branding-konformes UI Design adaptiert. Gemeinsam mit Stakeholdern kann beurteilt werden, ob die Arbeit aus unternehmerischer Sicht in die gewünschte Richtung geht. Schritt für Schritt werden aus Grobkonzepten Feinkonzepte.
Essentiell ist die Evaluation der Konzepte durch echte Nutzer:innen. In Interviews bzw. Usability Tests wird Verbesserungspotential identifiziert. Solche Tests sind in jedem Stadium des Konzepts durchführbar. Durch eine entsprechende Moderation sind selbst handgezeichnete Skizzen (sogenannte Paperprototypes) als Testgegenstand einsetzbar. Durch moderne Tools wie Eyetracking (Erfassung der Blickbewegungen) ist es dann quasi möglich, mit den Augen der Nutzer:innen zu sehen.
Da in diesen Iterationen noch nicht programmiert wird, können mit vergleichsweise wenig Aufwand Ideen und Annahmen validiert oder verworfen werden bis die Anforderungen erfüllt sind.
Anforderungen der IEC 62366
Wer schon nach dem menschzentrierten Prozess arbeitet, darf sich freuen: Für die IEC 62366 ist inhaltlich schon ein großer Teil der Anforderungen abgedeckt. Zum Projektstart sollte jedoch die geforderte Dokumentation eingeplant werden. Aus der sogenannten „Gebrauchstauglichkeitsakte“ („Usability Engineering File“) muss für eine:n Auditor:in hervorgehen, dass in der Gestaltungslösung angemessen auf die Risiken von potentiellen Nutzungsfehlern reagiert wurde. Das heißt, dass bestenfalls die Fehler durch Nutzer:innen erst gar nicht gemacht werden können.
Die IEC erwartet, dass das Usability Engineering den Gesamtkontext betrachtet. Transport, Lagerung, Installation, Betrieb, Wartung, Reparatur und Entsorgung des Medizinprodukts werden in der Beschreibung aufgezählt. Gebrauchsanweisungen (IFU, Instructions for Use) und Sicherheitshinweise dürfen ebenso nicht vergessen werden. Dies wird auch über die ISO 14971 zum Risikomanagement gefordert.
Was gehört unter anderem in die Gebrauchstauglichkeitsakte?
Nutzungsspezifikation: Welche User werden die Anwendung nutzen? Wie ist die korrekte Nutzung der Anwendung? In welchem Kontext findet die Nutzung statt?
Gefährdungsbezogenen Nutzungsszenarien („hazard-related Use Scenarios“): Welche "bekannten oder vorhersehbaren Gefährdungen und Gefährdungssituationen" können durch Nutzungsfehler möglicherweise hervorgerufen werden?
Spezifikation der Gestaltungslösung: Hier möchte man nachvollziehen, dass im Design die möglichen Nutzungsfehler abgefangen werden.
Planung und Ergebnisse der Evaluationen
Explizit ist die Durchführung von zwei Arten von Evaluationen gefordert:
Formative Evaluation: Hier ist nicht festgelegt, mit welchen Methoden und wie häufig sie durchgeführt werden müssen. Sie dienen dazu, Erkenntnisse für die nächsten Iterationen zu gewinnen. Deswegen empfehlen sich hier insbesondere klassische Usability Tests.
Summative Evaluation: Diese ist die „finale Abnahme“. Ergebnis muss sein, dass auch wirklich die vorher identifizierten Risiken mit passenden Maßnahmen abgefangen werden.
Ganz schön viel Verantwortung? – Risikomanagement 🩷 Usability Engineering
Für die Entwicklung von Medizinprodukten ist neben dem Usability Engineering auch ein Risikomanagement nach ISO 14971 gefordert. Für Designer bzw. Usability Engineers empfiehlt sich schon früh eine enge Zusammenarbeit mit dieser Abteilung. Gemeinsam kann erörtert werden, in wiefern Nutzungsfehler gefahrenbezogen („hazard related“) sein könnten oder ob Risiken vertretbar sind. Die Einschätzung, wie schwer die Schäden sein würden, die ein Use Error jeweils nach sich ziehen könnte, ist Aufgabe des Risikomanagements. Usability Engineers fokussieren darauf aufbauend die Konzeption der Risikokontrollmaßnahmen.
Was bekomme ich für den Aufwand?
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die IEC 62366 fordert ein sauberes, nachvollziehbares Arbeiten. Nutzerzentriertes Design inklusive Research, Evaluationen und iterativem Vorgehen decken sich mit den Anforderungen der Norm. Für User Experience Designer ist sie deshalb eine wertvolle Orientierungshilfe - für zulassungspflichtige Medizinprodukte verbindlich. Für Produkthersteller lohnt es sich, das Thema Nutzer:innen- und Patient:innen-Experience ganzheitlich anzugehen, denn unterm Strich stehen diese langfristigen Vorteile:
Sicherheit der Nutzer:innen durch bestmögliche Gebrauchstauglichkeit (Usability) nach IEC 62366-1
Zufriedenheit durch eine User Experience, die genau auf die Anwendenden zugeschnitten ist
barrierearme Anwendung
Wettbewerbsvorteile durch die Erfüllung modernster Qualitätsstandards
Effizienz in der Produktentwicklung durch frühzeitige Evaluationen
Warum überhaupt nutzerzentriert? Diese Frage beantworten Alex und Lena in ihrem Blogartikel „Why user-centered“.
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