Als UX-Designer gestalten und entwickeln wir digitale Produkte. Wir sehen uns in der Verantwortung, die digitalen Werkzeuge und Systeme, die unsere Welt prägen, nachhaltiger zu gestalten. Der Schlüssel dafür heißt "Design for Sustainability" (DfS) und soll ökologische, soziale und wirtschaftliche Aspekte gleichermaßen in den Mittelpunkt unserer Design-Entscheidungen stellen. Es geht nicht mehr darum, Unternehmen, Nutzer ODER die Umwelt mit unseren Entscheidungen zu priorisieren - sondern alle drei auf Augenhöhe zu betrachten und zu berücksichtigen.
Im Kontext von digitalen Produkten und Services umfasst Nachhaltigkeit für uns drei zentrale Aspekte: Erstens, das Reduzieren der Umweltauswirkungen durch energieeffiziente und ressourcenschonende digitale Lösungen. Zweitens, das Fördern sozialer Verantwortung durch ethische und inklusive Praktiken. Drittens, das Sicherstellen der Wirtschaftlichkeit durch langlebige und kosteneffiziente Produkte.
In diesem Artikel diskutieren wir, inwiefern Design für Sustainability die Stärken von Human Centered Design (HCD) und Environment Centered Design (ECD) vereint, um digitale Produkte zu schaffen, die nicht nur den Bedürfnissen der Nutzer gerecht werden, sondern auch die Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft ganzheitlich berücksichtigen. Nachhaltigkeit wird so zu einem integralen Bestandteil des Designprozesses, der unsere digitale Zukunft verantwortungsvoll gestaltet.
Was bedeutet "Design for Sustainability"?
Um diese Frage mitsamt ihrer Notwendigkeit zu beantworten, sollten wir zunächst einen anderen Design-Ansatz betrachten: Human-Centered-Design (HCD).
Diese Vorgehensweise stellt die Nutzer:innen in den Mittelpunkt des Gestaltungsprozesses. Das wiederum führt zu Produkten und Dienstleistungen, die intuitiv und benutzerfreundlich sind - eben weil viel Vorarbeit geleistet wird, um die konkreten Herausforderungen der Nutzer zu verstehen und letztendlich auch zu lösen. Durch ständiges Feedback und Iteration wird die Erfahrung der Nutzer:innen dann immer weiter optimiert. Erst durch dieses Einbeziehen der Nutzer:innen in die Entwicklung können ihre Bedürfnisse und Vorlieben besser verstanden und berücksichtigt werden. Das erhöht die Zufriedenheit mit dem Endprodukt.
Grundsätzlich ist Human-Centered-Design ein sehr guter Ansatz für die Gestaltung von User Experiences. Mit der menschzentrierten Gestaltung nach DIN EN ISO 9241-210 existiert ein Rahmenwerk unserer Arbeit als UX Professionals, an dem wir unsere Entscheidungen im UX Design ausrichten. Mittlerweile fällt auf, dass der HCD Ansatz einen Haken hat. Denn indem Menschen in den Vordergrund des Designs gestellt werden, bekommt die Umwelt meist zu wenig Aufmerksamkeit bei der Produktentwicklung. Und das betrifft nicht nur physische Produkte wie z.B. Kleidung, sondern auch Software oder Services wie Liefer- oder Reinigungsdienste. Nahezu jede Branche hat Potenzial, der Umwelt zusätzlich zur Nutzerzentrierung mehr Priorität einzuräumen.
Mit der aktuellen Entwicklung und dem Aufkommen von Begriffen wie "Sustainable UX", "Life Centered Design" oder "Planet Centric Design" bekommt der Aspekt der Nachhaltigkeit mehr Gewicht. Diese drei Strömungen lassen sich gut unter dem Begriff "Environment Centered Design" (ECD) zusammenfassen. Es geht jeweils darum, dass die Umwelt stärker in den Fokus des Designprozesses gestellt werden soll. Dieses Bewusstsein zu vermitteln ist ein sinnvoller erster Schritt in die richtige Richtung. Allerdings ist das erst der Anfang. Es geht es noch weiter:
Anstatt also nur auf den Nutzen für Menschen ODER die Umwelt zu achten, berücksichtigt Design für Sustainability die Auswirkungen auf Gesellschaft und Natur gleichermaßen.
Die Schwerpunkte von HCD und ECD werden hier in einem umfassenden Design Ansatz miteinander verbunden. Dieser Ansatz fordert UX Designer nicht nur dazu auf, die Nutzer:innen mitsamt ihrer Bedürfnisse und Herausforderungen im Blick zu haben, sondern auch das dahinterliegende System, wechselseitige Abhängigkeiten und Potenziale.
Dadurch sollen Unternehmen sicherstellen, dass sie nicht nur menschliche Bedürfnisse erfüllen, sondern ganzheitlich die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen ihrer Designentscheidungen berücksichtigen.
2. Sustainable UX denkt Barrierefreiheit mit
Gutes und zeitgemäßes Design ist inklusiv und spricht ein vielfältiges Publikum an, statt manche Menschen (unbewusst) zu vernachlässigen oder von der Verwendung auszuschließen. Es geht darum, digitale Produkte für alle zugänglich zu machen und sicherzustellen, dass unsere Design-Entscheidungen fair und ehrlich sind. Beispielsweise sollten UX Designer sogenannte "Dark Pattern" vermeiden, die Nutzer:innen durch manipulative Anordnungen oder Funktionen zu einem bestimmten Verhalten verleiten. Stattdessen gilt es, transparente und benutzerfreundliche Designs zu entwickeln, die durch das Einhalten ethischer Standards zu einer positiven Nutzererfahrung und einer nachhaltigeren digitalen Welt beitragen. Dadurch, dass du Produkte und Services barrierefreie gestaltest, machst du sie in vielen Fällen automatisch nachhaltiger.
Die Themen Sustainable UX und Barrierefreiheit lassen sich demnach kaum voneinander trennen und müssen unbedingt als Einheit gedacht werden. Denn beide Ansätze zielen darauf ab, Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, die langfristig für eine breite Nutzerbasis zugänglich und nutzbar sind. Eine gute Hilfestellung bieten an dieser Stelle die A11y-Standards. Mit diesen Guidelines können UX Designer sicherstellen, dass digitale Inhalte für alle Menschen, einschließlich Menschen mit Behinderungen, zugänglich sind, indem sie Richtlinien wie die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) einhalten.
Wusstest du zum Beispiel, dass 7,9 Millionen Menschen in Deutschland als schwerbehindert gelten? Das sind fast zehn Prozent unserer Bevölkerung. Davon erkennt man längst nicht jede Person offensichtlich. Viele Behinderungen werden von Nicht-Betroffenen übersehen und demnach auch schnell bei User Experience Design vernachlässigt. Hier gilt auch wieder: Jeder Schritt zählt. Checke deine Farbkontraste mit simplen und automatischen Plug-Ins in z.B. Figma und optimiere ohne großen Aufwand die Screenreader-Fähigkeit. Das erhöht die Barrierefreiheit deiner Software und erhöht gleichzeitig ihre Nachhaltigkeit.
3. Sustainable UX denkt Produktlebenszyklen mit
Im Rahmen von SUX wird der gesamte Produktlebenszyklus berücksichtigt. Es geht darum, die gesamte Reise eines digitalen Produkts zu betrachten – von der Konzeption und Entwicklung über die Nutzung bis hin zur Entsorgung oder Weiterverwendung. Dieser Ansatz fördert die Haltbarkeit, Erweiterbarkeit und Recyclingfähigkeit von Produkten und Services, um Abfall und den Ressourcen Verbrauch zu minimieren. Designer müssen die gesamte Experience im Blick zu haben: also vor, während und nach der Nutzung. UX Designer sollten sich demnach nicht nur mit der Frage beschäftigen, WIE ein Produkt oder Service entsteht, sondern auch WAS es während seines Lebenszyklus alles durchlebt.
An dieser Stelle geben UX Designer Impulse, bestehende Konzepte zu hinterfragen und nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Sie erforschen Nutzerbedürfnisse, technische Möglichkeiten und ethische Fragen, um zukunftsorientierte Entscheidungen zu treffen (RETHINK). Durch Nutzerbeteiligung und Design-Optimierung erhöhen sie dann die Effizienz deines Produkts (REDUCE). Im besten Fall gestalten sie Produkte und Services mit wiederverwendbaren Komponenten und dokumentieren sie in Living Styleguides (REPAIR & REUSE). Heißt: UX Designer sind in allen Phasen der Produktentwicklung involviert, um nachhaltige Optimierungspotenziale sichtbar zu machen.
Man spricht hier im Kontext der Kreislaufwirtschaft von den "6Rs", mit denen sich Nachhaltigkeit in der digitalen Welt greifbar und anwendbar machen lässt. Sie dienen als gute Orientierungshilfe und Einstieg, um das Thema Sustainable UX in der eigenen Produktentwicklung und im gesamten Produktlebenszyklus mitzudenken: Reduce, Reuse, Repair, Recycle, Refurbish und Rethink.
Wusstest du, dass die Herstellung eines iPhones 12 Pro etwa 82 kg CO2-Äquivalent über den gesamten Lebenszyklus verursacht und das etwa 21 Tagen Stromverbrauch eines durchschnittlichen Haushalts entspricht? Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, den gesamten Produktlebenszyklus zu betrachten und Möglichkeiten zur Reduzierung und Wiederverwendung zu finden.
4. Sustainable UX ermöglicht nachhaltige Verhaltensweisen
Dieses Prinzip fördert positive Verhaltensänderungen und befähigt User dazu einfach nachhaltige Entscheidungen zu treffen, indem es ihnen alle wichtigen Informationen und Werkzeuge zur Verfügung stellt. Das betrifft nicht nur die Frage "Kaufe ich Produkt A oder B?", sondern auch "Will ich überhaupt eine Aktion ausführen oder lieber drauf verzichten?". Daher gilt es, Design for Sustainability nicht nur auf Produktebene, sondern auch auf Verhaltensebene zu denken. Es geht darum, Produkte zu schaffen, die ein nachhaltiges Verhalten unterstützen und die Nutzer dazu ermutigen, umweltfreundliche Entscheidungen zu treffen. Beispielsweise könnte man den Energieverbrauch digitaler Dienste anzeigen oder Vorschläge zur Reduzierung des digitalen CO2-Fußabdrucks machen.
Ein ganz konkretes Beispiel: Es ist wichtig, die Nutzer:innen über die Auswirkungen der Nutzung eines Produkts oder Services aufzuklären. Nur wenn sie die Konsequenzen ihres Handelns kennen, können sie informierte und verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen. So könnten bei einer Suchanfrage auf Google die Informationen zum Energieverbrauch und CO2-Ausstoß dieser Aktion direkt angezeigt werden. Bei einem ChatGPT-Prompt wären dann die geschätzten Werte für Wasserverbrauch und Arbeitsstunden von Data-Workern sichtbar. Auf diese Weise werden Nutzer:innen für die Auswirkungen ihrer digitalen Aktivitäten sensibilisiert und können ihr Verhalten entsprechend anpassen. Indem Sustainable UX diese Transparenz schafft, empowert es die Menschen, bewusster und nachhaltiger zu handeln.
Es geht nicht darum, von heute auf morgen ausschließlich auf recycelte Materialien zu setzen, plötzlich allen Produkte im Sortiment überkritisch gegenüber zu stehen oder jede Software neu zu coden. Es geht fürs Erste darum, ein Bewusstsein für das Thema zu bekommen und sich Gedanken darüber zu machen, wie man die Umwelt noch besser im Designprozesses berücksichtigen kann. Recherchieren, Weiterbilden, miteinander sprechen. Einfach machen. Jeder kleine Schritt zählt. Das ist nicht nur ethisch sinnvoll, sondern bringt auch langfristige Vorteile für Unternehmen. Versprochen.”
Alexander Gussenberg
Fazit - und was nun?
Als UX-Designer können wir einen bedeutenden Beitrag zur nachhaltigen Produktentwicklung leisten. Unser Einfluss reicht von der Gestaltung barrierefreier Benutzeroberflächen bis hin zur Berücksichtigung des gesamten Produktlebenszyklus. Diese Verantwortung ist jedoch enorm und kann nicht auf einzelne Designer oder kleine UX-Teams beschränkt werden. Stattdessen ist ein ganzheitlicher Ansatz notwendig, bei dem crossfunktionale Teams eng zusammenarbeiten.
Wichtige Stakeholder, einschließlich der Geschäftsführung, müssen aktiv in den Prozess der nachhaltigen Produktentwicklung (oder -umgestaltung) eingebunden werden. Nachhaltigkeit darf nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss in allen Unternehmensbereichen verankert sein. Von der Produktentwicklung über das Marketing bis hin zum Kundensupport sollten alle Abteilungen ein gemeinsames Verständnis und Engagement für nachhaltige Praktiken entwickeln. Das heißt zusammengefasst:
Design for Sustainability ist ein riesiges Thema. Indem nicht mehr nur die Bedürfnisse der Unternehmen und Nutzer, sondern auch der Umwelt in den Vordergrund gestellt werden, gibt es eine Menge zu tun. Davon darf man sich aber nicht abschrecken lassen. Wir empfehlen, klein anzufangen. Setze eine nachhaltige Praxis in deinem nächsten Projekt um. Ob durch die Optimierung des Codes für Energieeffizienz oder das Design für Langlebigkeit – jeder kleine Schritt zahlt auf unsere Umwelt und die Zufriedenheit deiner Nutzer:innen ein.
Stell dir für den Anfang gerne die folgenden Fragen, daraus kannst du leicht erste Action Items für dich ableiten
Wer sind direkte und indirekte Nutzer:innen meines Produkts? Und können die alle mein Produkt reibungslos benutzen oder kann ich es vereinfachen?
Sind meine Produkte und Services für Leute mit z.B. Sehbehinderungen benutzbar?
An welchen Stellen kann ich Datennutzung meiner digitalen Produkte und Services optimieren? Nutze ich aktuelle Formate wie webp? Und kann ich auf Inhalte verzichten?
Gemeinsam können wir in unserem Produktteams die Veränderung vorantreiben, die notwendig ist. Lasst uns Nachhaltigkeit nicht nur als Überlegung, sondern als grundlegenden Aspekt unseres Designprozesses verankern.